Karl-Heinz Beckers „Versöhnungsschrift“


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Im April 1944 wurde Karl-Heinz Becker als Wehrmachtspfarrer in Bukarest stationiert. Hier verfasste er eine Abhandlung über Versöhnung, in der er sich gegen die Rechtsentwicklung im NS-Staat wandte. Diese Abhandlung brachte ihm ein Kriegsgerichtsverfahren ein.


In seiner Versöhnungsschrift stützte sich Becker auf seinen früheren Aufsatz aus dem Jahr 1935 Über das theologische und politische Problem der Versöhnung. In diesem Aufsatz hatte er die unüberwindliche Spannung zwischen protestantischer Staatsloyalität und nationalsozialistischem Totalitätsanspruch herausgearbeitet. In die Versöhnungsschrift nahm Becker dann eine Passage auf, die er in der Druckfassung seines Aufsatzes von 1935 noch weggelassen hatte: den Hinweis auf das Politische Testament Paul von Hindenburgs (1847–1934), in dem der frühere Reichspräsident den NS-Staat mit der inneren Versöhnung des deutschen Volkes beauftragt hatte.


Hindenburgs Politisches Testament spielte in Beckers Kritik am NS-Rechtswesen eine wichtige Rolle. In der Versöhnungsschrift führte er dazu aus, die Gestapo stütze ihre Macht auf die Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933. Diese Verordnung habe eine in der Geschichte völlig beispielslose Rechtslage des deutschen Volkes gegenüber seiner Staatsführung zur Folge. Sie habe Grundrechte außer Kraft gesetzt, die in Wirklichkeit nichts anderes als die für alle Zeiten gültigen primitivsten Grundlagen des staatlichen Rechtslebens überhaupt seien. Becker warf deshalb die Frage auf, ob diese besondere Rechtsentwicklung mit all ihren erheblichen Ausweitungen vor allem der polizeilichen Vollstreckungsgewalt noch dem gesetzgeberischem Willen Hindenburgs entspreche.


In der Rechtswissenschaft sei zwar eine Neubesinnung auf den unlöslichen Zusammenhang von Recht und wirklicher Sittlichkeit, – von Gesetz und öffentlicher Redlichkeit im Gegensatz zu allen macchiavellistischen Staatspraktiken zu erkennen. Es fehle aber noch an Einfluss, um sich zum Segen unseres Staats- und Rechtslebens auswirken zu können.


In der Versöhnungsschrift bezog sich Becker auch auf einen mutigen Briefwechsel mit seinem militärischen Vorgesetzten vom Jahresanfang 1944. Darin hatte Becker die Frage aufgeworfen, welche Rechtsfolgen die Verbrechen der SS gegen die Zivilbevölkerung und vor allem gegen die Juden für die Wehrmacht nach sich ziehen würden (K-H. Becker, Siebenkittel, 283–285).


Becker verteilte seine Schrift zunächst nur an einen kleinen Personenkreis, zu dem u. a. Feldbischof Franz Dohrmann (1881–1969) und eine deutsche Juristische Fakultät zählten. Auf Grund positiver Rückmeldungen wollte er den Text im Juli 1944 vervielfältigen. Die Nachricht vom Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 ließ ihn jedoch kurzfristig an seinem Vorhaben zweifeln. Er realisierte seinen Plan dann aber von Ungarn aus, wohin er als Lazarettpfarrer versetzt worden war. Wie in anderen Fällen auch ließ er den Text auf eigene Kosten drucken. Er überstand sogar die vom Drucker geforderte polizeiliche Überprüfung, da er den Text als wissenschaftliche Publikation deklarierte. Einen Teil der rund 200 Exemplare verschickte er danach illegal mit der Zivilpost, vor allem nach Schweden und in die Schweiz.


Seit Oktober 1944 war Becker in Wien stationiert, wo er zustimmende Schreiben von Landesbischof Hans Meiser (1881–1956) und dem Historiker Heinrich von Srbik (1878–1951) erhielt. Ein Pfarrer, der zu den Deutschen Christen gehörte und die Schrift irrtümlich erhalten hatte, erstattete jedoch Anzeige gegen Becker. Am 24. Dezember 1944 erfuhr Becker, dass auf Anordnung Heinrich Himmlers (1900–1945) ein Kriegsgerichtsverfahren gegen ihn eröffnet worden war. Zur Begründung hieß es, er habe in seiner Schrift die Berechtigung und Entwicklung der nationalsozialistischen Rechtsprechung in Zweifel gezogen.


Bei einem Verhör am 16. Januar 1945 kam ein Kriegsgerichtsrat dann zu dem Schluss, dass die Becker vorgeworfenen Tatbestände Kanzelmissbrauch und Hochverrat nicht vorlägen. Himmler entzog den Fall jedoch der Wiener Kommandantur und reichte ihn an eine höhere Instanz der Heeresgerichtsbarkeit weiter. Zu einer Inhaftierung Beckers kam es dann nicht mehr. Die Kriegswirren in Wien verhinderten schließlich die Fortführung des Verfahrens.


Quelle / Titel


  • © K-H. Becker, Siebenkittel, 287–290

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