Ein scharfer Kritiker Hitlers


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Dr. phil. Ernst Lehmann (1861–1948) war in den 1880er Jahren vom Judentum zum Christentum konvertiert und seit 1889 im badischen Kirchendienst. Als Vikar in Mannheim, Pfarrer in Hornberg (seit 1895) bzw. wieder in Mannheim (seit 1911) entwickelte er großes sozialpolitisches Engagement, eckte damit aber bei konservativen Kräften in Stadt und Kirche an.


Parteipolitisch betätigte sich Lehmann zunächst in der National-Sozialen Partei bzw. der Fortschrittlichen Volkspartei. Seiner theologisch liberalen Haltung blieb er trotz mancher Konflikte treu. Dies zeigte sich v. a. im Jahr 1911, als Lehmann für den nach einem Disziplinarverfahren amtsenthobenen Pfarrer Gottfried Traub (1869–1956) Partei ergriff, der in einem Irrlehreprozess (Vorwurf des Pantheismus) den Kölner Pfarrer Carl Jatho (1851–1913) verteidigt hatte.


Im 1. Weltkrieg stärkte Lehmann mit seinen Publikationen nationalen Sinn und Kaisertreue. Nach Kriegsende engagierte er sich kirchenpolitisch zunächst bei den Liberalen zugunsten einer Volkskirche, wechselte aber kurz vor seinem Ruhestand zu den Religiösen Sozialisten und unterstützte im Mai 1931 Pfarrer Erwin Eckert in seinem Konflikt mit der Kirchenleitung. Lehmann warf dieser vor, mit der extremen Rechten zu sympathisieren.


Politisch engagierte sich Lehmann, ein scharfer Gegner der Revolution, nach 1918 für die linksliberale DDP. 1925 warb er bei der Reichspräsidentenwahl für Paul von Hindenburg. Im Juli 1930 verließ Lehmann die bedeutungslos gewordene DDP und trat in die SPD ein. An die Stelle seiner bisherigen konservativ-liberalen gesellschaftspolitischen Überzeugung trat die Hoffnung, dass im sozialdemokratischen Reformismus die Möglichkeit der Verbesserung der Lebenswelt der Arbeiter liege.


Im Januar 1933 erschien Lehmanns Buch Deutschland wohin? Die als Weckruf eines alten Nationalsozialen an das Gewissen der Deutschen Nation untertitelte Betrachtung zum politischen Führertum war dem Andenken Friedrich Naumanns (1860–1919) gewidmet und hatte zum Ziel, der Führerschaft Hitlers um der Zukunft des deutschen Volkes willen in den Arm zu fallen. Zu dieser Überzeugung war Lehmann anlässlich der Reichspräsidentenwahl 1932 gekommen, als er sich mit der NSDAP, mit der Person Hitlers und mit „Mein Kampf“ befasst hatte.


Lehmann erklärte es zur Aufgabe des Volkes, den echten und berufenen Führer vom unberufenen, den Volksmann vom Demagogen, die wahren von den falschen Propheten [...] zu unterscheiden, zumal es in unruhigen Zeiten mehr Demagogen als echte Volksführer gebe. Die Verantwortung zur Warnung vor dem falschen Propheten [könne] unbeirrt durch dessen Erfolge oder die Zahl seiner Anhänger zur Gewissenspflicht für wenige werden, die den erfolgreichen Führer als Volksverführer, als den das Volk ins Verderben führenden falschen Propheten erkannt zu haben überzeugt sind.


Bei seinem Bemühen, Hitler zu entlarven, folgte Lehmann dem Historiker Hans Delbrück (1848–1929), der das Götzenbild Ludendorff zerstört habe (12). Einleitend analysierte Lehmann Hitlers politische[n] Werdegang mit einem eindeutigen Ergebnis: Hitler sei ein oberflächlicher politischer Fassadenkletterer (14).


In seiner Auseinandersetzung mit Hitlers Rassedenken verfiel Lehmann selbst in antisemitische Denkmuster und schrieb von der Gegensätzlichkeit von deutschem und jüdischem Volkstum als einer völkische[n] Realität, die sich aus den Heroentypen der beiden Völker ableiten lasse. Hier die Lichtgestalt eines Siegfried aus dem Nibelungenlied und dort den bei all seiner leidenschaftlichen Frömmigkeit doch raffinierten Orientalen Jakob (15). Aus diesem Befund könne man verschiedenartige Folgerungen ziehen: je nachdem, ob man sich von triebmäßigen Empfindungen oder von der Vernunft leiten lasse.


Hitlers Schlussfolgerungen seien sittlich betrachtet verwerflich, denn er sei eine jener gefährlichen Scheuklappennaturen, die sich nicht aus einer Reihe von Erkenntnissen eine Meinung bildeten, sondern nur eine einzelne Erkenntnis isolierten, um dann von der Isolierzelle aus die Wirklichkeit zu vergewaltigen (16). Hitler ziele mit seinem Antisemitismus auf die Einkapselung, die Entrechtung, Diffamierung und Niederringung der Juden, auf ein neues materielles und ideelles Ghetto. Demgegenüber beanspruchte der Treitschke-Schüler Lehmann die Position eines geistigen Antisemitismus, auf dessen Grundlage etwa die Zuwanderung aus Osteuropa reguliert werden sollte.


In seiner kritischen Gesamtschau der politischen Lage beurteilte Lehmann nicht nur den deutschnationalen Parteiführer Alfred Hugenberg (1865–1951) ausgesprochen negativ, sondern auch die evangelische Kirche. Diese habe, von nationalen und sozialen Parolen geblendet, vor dem Nationalsozialismus vollständig kapituliert.


Als Beispiel führte Lehmann die jüngsten Kirchenwahlen an, wo Opportunismus und die ängstliche Scheu vor dem Missfallen der Nationalsozialisten zu einer Selbstentwürdigung der Kirchenleitungen geführt habe. In Baden hätten sich die Evangelischen Nationalsozialisten von dem nichts weniger als evangelisch eingestellten Hitler den kirchenpolitischen Berater für ihre Wahlpropaganda ausgebeten. Dies übertrumpfe sogar noch die liebedienerische Verbeugung der theologischen Fakultäten in Heidelberg und Halle vor dem Nationalsozialismus in den Fällen von Günther Dehn (45f.).


Im sog. Kirchenkampf verwehrte der Pfarrernotbund Lehmann die Aufnahme, da man die politische Vergangenheit des „Volljuden“ als Gefahr betrachtete.


Im November 1939 wurde Lehmann angeklagt, da er u. a. gegen die „Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen“ verstoßen und nicht den vorgeschriebenen diskriminierenden zweiten Vornamen „Israel“ geführt, sog. Feindsender gehört und mehrfach gegen das Heimtückegesetz verstoßen hatte. Die Finanzabteilung der badischen Landeskirche forderte daraufhin von der Kirchenleitung erfolglos, ein Disziplinarverfahren einzuleiten, damit Lehmann aufgrund der zu erwartenden Haftstrafe seine Ruhestandsbezüge und die Rechte des Geistlichen Standes verliere. Im März 1940 wurde Lehmann zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt, die Untersuchungshaft wurde angerechnet. Nach vier Wochen wurde die Haft unterbrochen und Lehmann als haftunfähig entlassen.


Im Zusammenhang mit dem Strafverfahren wurde auch wieder Lehmanns Buch aktuell. In einem Schreiben des Reichsjustizministeriums an den Reichskirchenminister und den badischen Kultusminister vom 13. Januar 1940 hieß es dazu: Im Januar 1933 verfasste Lehmann eine vor der Reichstagswahl 1933 stark verbreitete Kampfschrift ‚Deutschland wohin?‘. Nach der Darstellung Lehmanns bei seiner Vernehmung am 21. Dezember 1939 sollte die Schrift den Unterschied aufzeigen, der nach seiner Auffassung in ethischer Hinsicht zwischen der alten nationalsozialen und der neuen national sozialistischen Haltung bestehen soll. Auf die Vorhaltung, dass die Gestapo das Buch als eine Schmähschrift werte, erklärte Lehmann, die Schrift sei eben eine Kampfschrift gewesen (LKA Karlsruhe, PA Lehmann, Ernst).


Quelle / Titel


  • © Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn

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