Untergetauchte jüdische Flüchtlinge


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Die „untergetauchten“ jüdischen Flüchtlinge, auch „U-Boote“ genannt, waren meist von großer Angst erfüllt, wie der Bericht von Max Krakauer über einen Koffer auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof zeigt.


Bei ihrer Ankunft von Berlin in Stuttgart Anfang August 1943 war das Ehepaar Krakauer auf dem Hauptbahnhof in eine Ausweiskontrolle geraten, ohne Ausweise zu besitzen. Den Kriminalbeamten gegenüber hatten sie behauptet, die Ausweise lägen versehentlich in einem Koffer, der noch nicht eingetroffen sei. Sie fürchteten nun, beim Abholen des Koffers erneut in eine Kontrolle zu geraten.


In seinen Erinnerungen beschreibt Max Krakauer, alias Ackermann, den Vorgang so:


Ganz ohne Sorge ging es bei dem Aufenthalt in Denkendorf, der zur Sorglosigkeit doch alle Voraussetzungen bot, nicht ab. Das, was uns ernstes Kopfzerbrechen machte, war unser Gepäck. Es musste noch immer auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof liegen.


Dort aber hatte in jenen entsetzlichen Stunden – jede Erinnerung daran jagte uns neue Schauder über den Rücken – die Polizei unsere Personalien aufgenommen. Wenn auch alles fingiert war, so bestand doch die Möglichkeit, dass in ihren Akten sogar die Nummer unseres Gepäckscheines stand. Sollten sich nun wirklich bei einer Rückfrage in Berlin unsere Angaben als falsch herausgestellt haben, so mussten wir damit rechnen, dass wir bei dem Versuch, das Gepäck abzuholen, abermals festgenommen wurden. Das war die Schlinge, mit der sie uns fangen konnten.


Tagelang brachten wir nicht den Mut auf, danach zu fragen, aber wir besaßen ja sonst keinerlei Kleidung oder Wäsche. Auf die Dauer ließ sich dieser Zustand nicht durchhalten. Und wir überlegten hin und her, wie man zu den Koffern kommen könnte, ohne uns selbst zu gefährden.


Nach einer neuen Beratung erklärte sich Pfarrer Stöffler selber bereit, zusammen mit einem Kollegen die Sache für uns zu regeln. Wenn jedoch unsere Befürchtungen zutrafen und die beiden festgestellt würden, dann bestand die Gefahr, dass unsere Helfer samt ihren Familien und wahrscheinlich die ganze B. K. in tödliche Schwierigkeiten gekommen wären. So baten wir dringend, davon abzusehen, und beschlossen, das Problem doch lieber persönlich zu lösen.


Wir rechneten uns aus, dass es mit Hilfe eines Dienstmannes gehen müsse. Aus der Ferne wollten wir beobachten, ob man ihn vielleicht an der Gepäckausgabe anhalten würde. Sollten wir die kleinste verdächtige Wahrnehmung machen, wollten wir lieber das Gepäck im Stich lassen und verschwinden, als uns neuen Unannehmlichkeiten aussetzen.


Der Plan schien gut, aber er scheiterte leider daran, dass es zu dieser Zeit am Stuttgarter Hauptbahnhof keinen Dienstmann mehr gab. So blieb uns doch nichts weiter übrig, als das Risiko selber auf uns zu nehmen. Gemeinsam traten wir an den Gepäckschalter, gaben den Schein ab und beobachteten scharf Mienen und Bewegungen des Beamten. Es geschah nichts. Gleichgültig zog er mit ihm davon, gleichgültig kehrte er mit den Koffern zurück und händigte sie uns aus. Man schien sich also doch nicht mehr in Berlin erkundigt zu haben, und abermals verfielen wir ins Grübeln, was den Kommissar zu seiner seltsamen Großzügigkeit veranlasst haben konnte. Jedenfalls waren unsere Befürchtungen umsonst gewesen, und mit großer Freude verfrachteten wir unseren Besitz, unsere ganze und letzte Habe nach Köngen, um selbst nach Wendlingen zu fahren.


Von unserer gewohnten Vorsicht gingen wir aber trotz dieses Erfolges nicht ab. Wie gewöhnlich, hielt ich auf dem Bahnsteig scharf nach verdächtigen Erscheinungen Ausschau. Dabei fiel mir ein Mann auf, der dem äußeren Bilde nach ein Kriminalbeamter sein konnte. Auch hielt er sich übermäßig lange vor dem Zuge auf, und wir beschlossen, ihn nicht zu benutzen. Anscheinend hatten wir mit unserer Vermutung recht, denn der Mann sprang noch im letzten Augenblick auf den bereits fahrenden Zug, und im Vorübergleiten des betreffenden Wagens sahen wir noch, wie einige Reisende nach ihren Brusttaschen griffen, offenbar um die Ausweise zu zücken.


So benutzten wir zur Heimkehr abermals die Straßenbahn, was zwar umständlicher, dafür aber auch viel sicherer war. Vorsichtig genug konnten Menschen in unserer Lage überhaupt nicht sein; unsere Gegenspieler hießen Himmler und Gestapo. Wir wären ihnen sicher ein willkommener Fang gewesen (Krakauer, Lichter, 87).


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