Richard Gölz, Erinnerungen an das KZ Welzheim


  • 1tes Bild zum Dokument
    Bildlupe

In früheren Jahren hatte sich Richard Gölz stets verweigert, auch nur von Welzheim zu erzählen, doch im Jahre 1960 schrieb er, längst als Vater Johannes für die orthodoxe Gemeinde in Milwaukee zuständig, seine Erinnerungen an den KZ-Aufenthalt in Welzheim nieder. Unter anderem führte er aus:


Vor einen Richter wurde ich nie gestellt, sondern nur von einem Beamten der Geheimen Staatspolizei („Gestapo“) verhört. Auch er war nicht unfreundlich; er sagte nur, bei der Zentrale in Berlin nehme man eine solche Unterstützung von Juden sehr schwer. Auf das Protokoll hin, das er dorthin sandte, wurde verfügt, daß ich nach dem schwäbischen Welzheim kommen solle, wo ein Bezirksgefängnis zu einem kleinen Straflager („KZ“) erweitert war. Wie lange man mich festhalten werde, wurde nicht gesagt. [...]


Im Lager Welzheim wurden wir wieder von einem wütenden Kommandanten empfangen; mich schrie er an: „Wissen Sie nicht, daß die Juden die schlimmsten Feinde unseres Volkes sind?“ Weiterhin behandelte er mich aber glimpflich, ebenso die Wachmänner. Die Achtung vor dem kirchlichen Amt und vor dem Alter (ich war nahezu 60) war auch bei verbissenen Nazis nicht ganz verschwunden. Übrigens war mein Eindruck immer: diese Leute, die außer der Parteipropaganda nichts hörten und lasen, wußten nicht, wie furchtbar die Juden gequält und gemordet wurden, und wenn sie davon gehört hatten, vergaßen sie es über ihren eigenen Angelegenheiten.


Der Raum, in den ich zum Essen und Schlafen eingesperrt wurde, stellte ein Europa im Kleinen dar: da waren Franzosen und Holländer, mehrere Polen, ein Serbe, ein Italiener u.s.w. Vermutlich hatten die wenigsten meiner Kameraden kriminelle Taten begangen; sie waren faul und aufsässig gewesen bei der Zwangsarbeit oder hatten mit deutschen Mädchen angebändelt, was Ausländern streng verboten war. Die Deutschen waren Sozialdemokraten oder Kommunisten; der Stubenälteste, der strenge Ordnung hielt und mir nur durch sein fürchterliches Fluchen auf die Nerven fiel, war schon seit zehn Jahren im Gefängnis! Er war aus der Kirche ausgetreten, zu mir sagte er: „Richard, ich liebe dich, obwohl du Pfarrer bist“. Er hatte philosophische Bücher gelesen; abends vor dem Einschlafen entwickelte er mir die marxistische Lehre. Da ich etwas unpraktisch bin, konnte man mich nicht zu viel Arbeit gebrauchen, man gab mir leichte Posten in der Küche und in einem Kleidermagazin. Andere, besonders Polen, wurden zu schwerer Bauarbeit gezwungen, obwohl sie körperlich sehr geschwächt waren. Das Schlimmste im Lager war der Hunger; die Kost war, vor allem für die Jungen, ungenügend und schlecht. Natürlich: das ganze deutsche Volk hungerte, wie hätte man Lebensmittel an uns Sträflinge verschwenden sollen! Es war so: wenn es zum Essen Kartoffel gab und ich sie nach häuslicher Gewohnheit schälte, kam oft ein Kamerad, bat mich um die Kartoffelschalen und verschlang sie. Bei geringen Vergehen, wenn ein Bett nicht tadellos gemacht war oder jemand beim Gemüseputzen eine Kleinigkeit aß, wurde die ganze Stube mit Entzug des Essens für einen halben oder ganzen Tag bestraft. Ich bekam von meiner Frau oder Freunden zuweilen ein Päckchen mit Eßbarem; meinem Leibe tat dies wohl, aber für Gefühl und Gewissen war es auch eine Belastung; wenn ich auch einzelnen davon mitteilte, allen konnte ich nicht geben, sonst hätte keiner etwas bekommen. Die jungen Leute hatten nur ein einziges Gesprächsthema, Sonntag und Werktag: das Essen. [...]


Ich wurde am Tag vor dem Aufbruch entlassen. Der Kommandant ließ mich kommen und gab mir die Drohung mit: „Nehmen Sie sich in acht! Ein andermal werden Sie schwer bestraft werden.“ Der Arme glaubte immer noch an den Sieg? – Ich wurde einige Monate später als Zeuge vor ein englisches Militärgericht geladen, das ihn zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilte, weil er im Lager einen englischen Gefangenen erschossen hatte. Ich war erstaunt, als ein englischer Offizier während der Verhandlung mich fragte: „Warum haben Sie eigentlich Juden aufgenommen?“ War das ihm nicht selbstverständlich? Später sollte ich vor einem deutschen Gericht über den ehemaligen Kommandanten zeugen, aber in der Nacht vor der Vernehmung beging er Selbstmord. In den vorhergehenden Friedensjahren war er Flaschner gewesen, ein einfacher Handwerker und kleiner Parteigenosse; wie konnte man einen solchen Mann plötzlich zum Lagerleiter ernennen? Er war den Versuchungen nicht gewachsen, die Machtbesitz mit sich bringt. Doch dies war das System. Potentaten brauchen auf solchen Posten Menschen, die nicht selber denken, willenlose Werkzeuge.


Durch Bekannte konnte ich im Städtchen einen kleinen Handwagen bekommen, auf den ich meine wenigen Habseligkeiten legte, und so machte ich mich auf den Weg nach Hause. (Privatarchiv Anneliese Ebeling, Milwaukee, USA, handschriftlich 15 Seiten DIN-A5; Transkription: Joachim Conrad)


Quelle / Titel


  • © Stadtarchiv Welzheim