Widerstand gegen den Abtransport von Pfleglingen


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Die Anstalt Stetten im Remstal war erstmals am 30. Mai 1940 von „Verlegungen“ betroffen, als ca. 70 Patienten der badischen Epileptiker-Anstalt Kork, die kurz nach Kriegsende nach Stetten verlegt worden waren, von den grauen Omnibussen abgeholt wurden. Als im September weitere 150 Personen zum Abtransport vorgesehen wurden, protestierten der Anstaltsleiter, Pfarrer Ludwig Schlaich (geb. 1899), und der ärztliche Direktor, Albert Gmelin, bei Reichsstatthalter Wilhelm Murr (1888–1945). Schlaich wandte sich zudem an Reichspropagandaminister Josef Goebbels (1897–1945), an Reichsjustizminister Franz Gürtner (1881–1941) sowie an Hans Heinrich Lammers (1879–1962), Chef der Reichskanzlei, den er ersuchte, die Angelegenheit bei Hitler vorzutragen. Zudem benachrichtigte Schlaich die Angehörigen der 150 Pfleglinge und unterrichtete sie über den anstehenden Transport. Viele Verwandte kamen, um sich von den Kranken zu verabschieden, doch nur wenige nahmen ihre pflegebedürftigen Angehörigen mit nach Hause und noch weniger beschwerten sich selbst bei den Behörden.


Schlaichs Interventionen und Proteste waren vergeblich: Die 150 Betreuten wurden am 19. September 1940 abgeholt. Für den 16. Oktober wurde der Abtransport weiterer 92 Personen aus Stetten angeordnet. Schlaich setzte sich daraufhin mit dem zuständigen Referenten im Reichsinnenministerium in Verbindung und erreichte tatsächlich, dass der Transport ausgesetzt wurde. Als dennoch zum festgelegten Termin die grauen Busse vorfuhren, konnte ein Telefonat mit dem Reichsinnenministerium diese zur Umkehr veranlassen. Schlaich war zugesagt worden, die Kranken würden durch einen Arzt begutachtet. Doch als ein solcher am 23. Oktober in Stetten erschien, ließ er sich in zweieinhalb Stunden 199 Pfleglinge vorführen – die 92 zunächst für den Abtransport vorgesehenen Personen nicht, ihr Schicksal war wohl schon entschieden.


Sehr kurzfristig wurde die Anstalt dann darüber unterrichtet, die 92 Kranken würden am 5. November abgeholt. Schlaich sabotierte diese Anweisung und weigerte sich, die Personen zu identifizieren. Seine Mitarbeiterin fuhr umgehend nach Stuttgart, um beim Innenministerium eine Absage der Aktion zu erreichen. Doch vergeblich: der Abtransport wurde bestätigt. Die stellvertretende Anstaltsleiterin unternahm es schließlich, die Patienten herauszugeben. Bei weiteren Transporten hat sich dann Schlaich nicht mehr zu Wort gemeldet; er hat wohl die Vergeblichkeit eingesehen. Überlebende berichteten, dass sie in der Wohnung Schlaichs versteckt wurden.


Insgesamt wurden von den am 1. Januar 1940 in Stetten betreuten 765 Patienten 446 „verlegt“ und von diesen wurden 328 Personen trotz aller Proteste ermordet – 323 in Grafeneck und fünf in Hadamar. Von den Abtransportierten überlebten also 118 Personen.


Anderen Einrichtungen, wie dem evangelischen Erziehungsheim Stammheim, der Bruderhaus-Anstalt Loßburg-Rodt, dem Gottlob-Weisser-Haus in Schwäbisch Hall oder den Zieglerschen Anstalten in Wilhelmsdorf – hier stellte sich Inspektor Heinrich Hermann mutig jedem Ansinnen auf Mitwirkung bei den Abtransporten entgegen – gelang es zunächst, ihre Pfleglinge vor der Mordmaschinerie zu schützen. Als einzelne Anstalten jedoch aus unterschiedlichsten Gründen Betreute an staatliche Anstalten abgeben mussten, bedeutete dies für die Betroffenen faktisch das Todesurteil.


Quelle / Titel


  • © Archiv Diakonie Stetten e.V., Kernen-Stetten

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