Kritische Aufarbeitung


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Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis die Selbststilisierung der bayerischen Landeskirche zur Widerstandsorganisation gegen den Nationalsozialismus und ihres Landesbischofs Hans Meiser (1881–1956) zum unerschrockenen Widerstandskämpfer Risse bekam und schließlich ganz zusammenbrach.


Angriffe gegen den Kurs der Landeskirche unter Meiser während der NS-Herrschaft gab es freilich schon nach Kriegsende. Meiser wurde vorgeworfen, er sei der Bekennenden Kirche in den Rücken gefallen und habe sie durch seinen lutherisch-konfessionellen Sonderweg gespalten. Diese Vorwürfe stellten jedoch lediglich eine Fortsetzung der internen Auseinandersetzungen in der Bekennenden Kirche aus der NS-Zeit dar und ließen entscheidende Aspekte wie das Verhältnis der Kirchenleitung zum NS-Staat und zu seinen Opfern außer Acht.


Wichtige Impulse für eine Revision des Geschichtsbildes der Nachkriegszeit kamen aus der wissenschaftlichen Forschung. Nachdem die Fachliteratur zur Rolle der evangelischen Kirche im Nationalsozialismus bis über die 1960er Jahre hinaus überwiegend von den Beteiligten des Kirchenkampfes selbst stammte und häufig der Rechtfertigung des eigenen Verhaltens diente, vollzog sich seit den 1970er Jahren ein Methoden- und Perspektivenwechsel in der kirchengeschichtlichen Forschung. Sie verließ die verengten Perspektiven des Kirchenkampfes und begann, nach den wissenschaftlichen Standards der allgemeinen Geschichtswissenschaft zu arbeiten. Dabei etablierte sich die „Kirchliche Zeitgeschichte“ als neue kirchengeschichtliche Disziplin.


Basierend auf neuen Forschungsergebnissen erfolgte seit den 1980er Jahren eine tiefgreifende Neubewertung des Verhaltens der bayerischen Kirchenleitung im Nationalsozialismus. Danach galt ihr Widerstand nicht dem NS-Regime als solchem, sondern der organisatorischen und ideologischen Gleichschaltung der Landeskirche mit dem NS-Staat. Durch ihr faktisches Arrangement mit dem Nationalsozialismus aber trug sie sogar dazu bei, das Hitler-Regime aufzuwerten und zu stabilisieren. Ihr Verhalten wurde deshalb nicht mehr dem politischen Widerstand zugerechnet, sondern als „Resistenz“ beschrieben. Dieser Begriff sollte die relative „Immunität“ bestimmter Gruppen und Organisationen ... und die damit wirksam gewordene Herrschaftsbegrenzung des Nationalsozialismus deutlich ... machen (Zitate: C. Nicolaisen, Bischof, 58).


Ende der 1990er Jahre wies der Pfarrer und Historiker Björn Mensing dann die Verstrickung von erheblichen Teilen der bayerischen Pfarrerschaft in den Nationalsozialismus nach (B. Mensing, Pfarrer). Zugleich wurden die Versäumnisse der Kirchenleitung gegenüber den Opfern des NS-Regimes deutlich, insbesondere das Schweigen von Landesbischof Meiser zum Mord an den Juden.


In den 1990er Jahren zerbrach das Bild der bayerischen Landeskirche als Widerstandsorganisation gegen den Nationalsozialismus endgültig. Seither gilt die Feststellung, die der Neuendettelsauer Kirchenhistoriker Friedrich Wilhelm Kantzenbach schon 1977 getroffen hatte, dass es auch in der bayerischen Landeskirche nur wenige einzelne waren, die für die entscheidenden Probleme einen klaren Blick hatten (F. W. Kantzenbach, Der Einzelne, 107).


Diese Einzelnen hatten im Geschichtsbild der Landeskirche aber kaum einen Platz eingenommen und waren in Vergessenheit geraten – teils, weil sie selbst nach dem Ende der NS-Herrschaft nicht mehr über ihr widerständiges Verhalten sprachen, teils, weil ihr Widerstand in den ersten Nachkriegsjahrzehnten von der Kirchenleitung nicht gewürdigt wurde.


Hatte Kantzenbach schon 1971 eine Dokumentation über Wilhelm Freiherr von Pechmann vorgelegt (F. W. Kantzenbach, Widerstand) und später in einer Studie u. a. auf Karl-Heinz Becker hingewiesen (F. W. Kantzenbach, Der Einzelne), dauerte es z. T. noch bis in die jüngste Vergangenheit, bis das widerständige Verhalten von Geistlichen wie Wolfgang Niederstraßer, Walter Hildmann und Gerhard Günther oder Laien wie Wunibald Löhe, Adam Bieber und Elisabeth Braun bekannt wurde.


Quelle / Titel


  • © Foto: Nora Andrea Schulze, München

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