Selbststilisierung als Widerstandsorganisation


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In der unmittelbaren Nachkriegszeit bildete sich schnell ein Geschichtsbild aus, in dem sich die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern selbst zu einer Widerstandsorganisation gegen den Nationalsozialismus stilisierte. Dabei wurde die eigene Verstrickung in den Nationalsozialismus weitgehend ausgeblendet, obwohl es auch kritische Stimmen gab, die auf das Versagen der Kirche hinwiesen. Das Geschichtsbild von der Kirche als Widerstandsorganisation bestimmte bis in die 1960er Jahre die kirchliche Selbstwahrnehmung.


Bei der Ausbildung dieses Geschichtsbildes spielten mehrere Faktoren eine Rolle. Insgesamt nahm die Auseinandersetzung der Landeskirche mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus in der von existenziellen Nöten bestimmten Situation im zerstörten Nachkriegsdeutschland nur geringen Raum ein. Wie auch andernorts im deutschen Protestantismus standen im kirchlichen Fokus der materielle Wiederaufbau und die Versorgung von Flüchtlingen und Vertriebenen, die in Bayern besonders zahlreich eintrafen.


Begünstigt wurde die Ausbildung des Geschichtsbildes durch die Besatzungsmächte, die die Kirchen als einzige gesellschaftliche Großorganisationen betrachteten, die nicht durch den Nationalsozialismus korrumpiert waren. Die Militärregierungen nahmen kirchliche Verantwortliche als Berater und Verhandlungspartner in Anspruch. Dies galt auch für Landesbischof Hans Meiser (1881–1956), den das amerikanische Militär sofort bei Kriegsende von seinem Ansbacher Ausweichquartier zurück nach München brachte.


Die Beurteilung als Widerstandsorganisation wurde für die Kirche vor allem im Zusammenhang der Entnazifizierung von großer Bedeutung. Um ihre Pfarrer schützen zu können, begann die Kirchenleitung, Beweise für kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu sammeln. Dazu leitete sie schon Ende 1945 eine Umfrage zu Verfolgungsmaßnahmen von Staat und Partei gegen Pfarrer ein. Mit einer Entscheidung des Kassationshofs im Bayerischen Sonderministerium vom Oktober 1946 wurde die Bekennende Kirche offiziell als Widerstandsbewegung anerkannt.


Kurz nach dieser Entscheidung brachte der Landeskirchenrat in hoher Auflage das Flugblatt Was war die „Bekennende Kirche“ oder „Bekenntnisfront“ in den Jahren 1934–1945? in Umlauf, das Pfarrern und Gemeindgliedern ein Mittel zur Beweisführung für den kirchlichen Widerstand in die Hand gab. Das Fazit dieses Flugblatts lautete:


Wer der Bekennenden Kirche als Mitglied angehörte und sich aktiv für sie einsetzte, war damit in einer Kampf- und Widerstandsorganisation tätig, stand im Gegensatz zum Nationalsozialismus und seiner Weltanschauung und mußte gewärtigen, dadurch Nachteile zu erleiden. Wenn Parteigenossen sich der Bekennenden Kirche anschlossen, so bezeigten sie damit, daß sie innerlich der NS-Weltanschauung und dem DeutschChristlichen-Geist fernestanden und daß sie die Treue zu ihrer Kirche, die Liebe zu ihrem Volk und den Gehorsam gegen die göttlichen Gebote von Recht und Wahrheit höher stellten als die Zugehörigkeit zur Partei.


Eine zentrale Rolle nicht nur für das Flugblatt, sondern für die Ausbildung des Geschichtsbildes von der Kirche als Widerstandsorganisation überhaupt spielte das „kollektive Widerstandserlebnis" vom Oktober 1934, bei dem sich ganze evangelische Bevölkerungsgruppen gegen die Absetzung von Landesbischof Meiser gestellt hatten. Dieses Erlebnis hatte sich durch alle Ebenen der Landeskirche hindurch tief in die kollektive Erinnerung eingeprägt und wurde in der kirchlichen Selbstwahrnehmung jetzt als Widerstand gegen den Nationalsozialismus als solchen gedeutet.


Quelle / Titel


  • © Landeskirchliches Archiv Nürnberg, LKR 180

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