Wilhelm Geyer: Ein Pfarrer wagt mehr


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Nach dem Novemberpogrom vom 9./10. November 1938 beschloss der Landeskirchenrat, von einem Protest bei staatlichen Stellen abzusehen. Auch der Nürnberger Kreisdekan Julius Schieder (1888–1964), der in den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen stets großen Mut bewiesen hatte, konnte sich nicht dazu durchringen, den ihm untergebenen Pfarrern einen öffentlichen Protest zu empfehlen. Dabei spielte die Befürchtung eine Rolle, im Fall eines Protests würde es zu ähnlichen Übergriffen gegen Pfarrfamilien und -häuser kommen wie gegen die Juden.


Schieder gab seinen Pfarrern nur den Rat, in den Kirchen die Zehn Gebote zu verlesen. Er hoffte, die Kirchenbesucher würden auch ohne direkten Hinweis verstehen, dass sich die demonstrative Verlesung der Zehn Gebote gegen die Verbrechen des Novemberpogroms richtete. Wilhelm Geyer, Pfarrer an der Nürnberger St. Lorenz-Kirche, wagte es jedoch, in seiner Bußtagspredigt über die Empfehlung Schieders hinauszugehen.


Geyer hatte schon mehrfach die Hetze gegen die Juden verurteilt und war deswegen seit den frühen 1930er Jahren wiederholt Opfer von Schmähartikeln des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“ geworden. In seiner Predigt erinnerte Geyer seine Gemeinde vor allem an ihre Mitverantwortung und Mitschuld an den von Deutschen begangenen Taten:


Was das Volk außer mir tut, was die kirchenfremden und kirchenfeindlichen Mächte und Menschen in diesem unseren Volke tun, dafür habe ich und dafür haben wir doch nicht Buße zu tun, das geht uns nichts an ... Aber ... überhörten wir dann nicht ganz und gar die Frage, die Gott an die ersten Menschen schon gerichtet hat: „Wo ist dein Bruder?“ Du bist ein Glied des deutschen Volkes, du bist brüderlich mit den Menschen dieses deines Volkes verbunden; wo ist dein Bruder? ... Mit denen ist der liebe Gott noch nicht nah zusammengekommen, die im Gewissen nichts spüren können, die eiskalt bleiben können oder die, wie man im Volksmund sagt, über Leichen hinweg gehen können.


Zum Schluss betete Geyer: Bewahre uns vor dem Rechten über andere Menschen und lehre uns erkennen, daß die Sünden unserer Zeit und unseres Volkes unsere Schuld und Mitschuld sind (Zitate nach: … wo ist Dein Bruder Abel, 108). Danach traten alle Geistlichen der Nürnberger Lorenzkirche vor den Altar und sprachen laut die Zehn Gebote.


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