Selbstbehauptung und Resistenz


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    Am 11.11.1934 fuhren ca. 450 Tübinger Theologiestudierende nach Stuttgart, um Wurm predigen zu hören. Nach dem Gottesdienst in der Stuttgarter Leonhardskirche bejubelten sie – mit erhobener rechter Hand – den aus dem Hausarrest befreiten Bischof.
    © Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Fotosammlung Bild 3071

Wurm: 1934 – Selbstbehauptung und Resistenz


Insbesondere drei Ereignisse ließen Wurm von Müller abrücken und führten ihn an die Seite der Kritiker des Reichsbischofs:


  • In einer Kundgebung, die am 13. November 1933 im Berliner Sportpalast stattfand, forderten die Deutschen Christen unter anderem ein Abrücken vom Alten Testament und von der Sünden- und Minderwertigkeitstheologie des Rabbinen Paulus. Erst auf ein Ultimatum hin distanzierte sich der taktierende Reichsbischof von diesen Auslassungen.
  • Ohne Rücksprache mit den Betroffenen verfügte der Reichsbischof im Dezember 1933 die Eingliederung der evangelischen Jugendverbände in die Hitlerjugend – eine Maßnahme, die auf einhellige Kritik stieß.
  • Auch der Versuch des Reichsbischofs vom Januar 1934, durch einen „Maulkorberlass“ kritische Äußerungen zu seinem Vorgehen zu unterbinden, stieß in kirchlichen Kreisen auf eine breite Ablehnung.

Bei einem Empfang, den Adolf Hitler Kirchenvertretern Ende Januar 1934 gewährte, versicherten Wurm wie auch andere Kritiker dem Reichsbischof trotz ihrer Kritik erneut ihrer Unterstützung. Sie sahen sich dazu genötigt, da Göring ein abgehörtes Telefonat Niemöllers verlas, in dem sich dieser despektierlich über Hitler geäußert hatte. Wurm wollte seine Loyalität zum Staat nicht infrage stellen lassen. Dies bewog ihn auch, den württembergischen Pfarrernotbund aufzulösen. Da sich Müller nicht an die im Januar erzielten Abmachungen hielt, suchten Wurm und seine lutherischen Bischofskollegen erneut um ein Gespräch bei Hitler nach, das ihnen im März auch gewährt wurde. Doch Hitler machte den Bischöfen deutlich, dass er trotz der vorgebrachten Kritik an Müller festhalten werde.


Der Reichsbischof fühlte sich nun stark genug, in die württembergische Landeskirche einzugreifen. Wegen eines vorgeblichen Notstandes verhinderte er die von Wurm geplante Einberufung des Landeskirchentags, in dem die Deutschen Christen zwischenzeitlich ihre Mehrheit verloren hatten. Dieser rechtswidrige Akt rief Proteste der Pfarrer und Gemeinden hervor und Wurm wurde nun deutlich, dass zur Selbstbehauptung der Kirche der Aufbau einer Front gegen Müller und die DC-Herrschaft unabdingbar war. Am 22. April wurde eine bereits seit Längerem terminierte Predigt Wurms im Ulmer Münster für eine Sammlung der kirchlichen Opposition genutzt. Dieser Ulmer Bekenntnistag brachte eine von Landesbischof Meiser verlesene Kundgebung der Evangelischen Bekenntnisfront in Deutschland, in der die bekenntnistreuen Landeskirchen gemeinsam mit bruderrätlichen Synoden und Gemeinden aus ganz Deutschland den Anspruch erhoben, die rechtmäßige evangelische Kirche zu sein. Auf der ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche in Barmen, an der auch Wurm teilnahm, wurde dieser Anspruch dann eindrücklich bestätigt.


Ein zweiter Eingriff des Reichsbischofs in die württembergische Landeskirche folgte im Herbst 1934. Müller wollte sämtliche Landeskirchen in die Reichskirche eingliedern und ihnen dadurch weitgehend ihre Unabhängigkeit nehmen. Da sich die württembergische Landeskirche diesen Plänen widersetzte, wurde in einer Verordnung vom 3. September die Landeskirche zu einer Verwaltungsprovinz der Reichskirche gemacht und der Landesbischof am 14. September beurlaubt. Eine vom Reichsbischof neu zusammengesetzte Synode, in die ausschließlich Deutsche Christen berufen worden waren, versetzte Wurm in den Ruhestand; zugleich wurde ein Geistlicher Kommissar eingesetzt, der die Leitung der Landeskirche übernahm.


Allerdings protestierten nun weite Kreise der Landeskirche gegen diese Zwangsmaßnahmen. Die Pfarrerschaft solidarisierte sich nachdrücklich mit Wurm und an zwei Oktobersonntagen versammelten sich zahlreiche Menschen vor der Wohnung des unter Hausarrest stehenden Bischofs und sangen Kirchenlieder. Wurm beachtete seine Zurruhesetzung nicht und hielt – beispielsweise durch eine am 14. Oktober zu verlesende Kanzelabkündigung – vielfältigen Kontakt mit den Gemeinden. Da der Eingriff des Reichsbischofs nicht nur aufsehenerregende Proteste in Deutschland nach sich zog – auch die Mitte Oktober in Berlin-Dahlem tagende 2. Bekenntnissynode solidarisierte sich mit Wurm und dem ebenfalls abgesetzten Meiser –, sondern auch im Ausland Beachtung fand, lenkte Hitler ein. Während ein geplanter Empfang Müllers abgesagt wurde, lud Hitler die Landesbischöfe Meiser, Marahrens und Wurm auf den 30. Oktober 1934 zu einer Aussprache nach Berlin. Damit war die von Reichsbischof Müller betriebene zwangsweise Eingliederung dieser drei Landeskirchen in die Deutsche Evangelische Kirche abgewendet. Die Landesbischöfe waren rehabilitiert, die Reichsbischofsdiktatur war gescheitert.


Durch die Rehabilitation der Bischöfe war auch Hitlers Kirchenpolitik gescheitert. Damit erlitt das NS-Regime seine einzige innenpolitische Niederlage: Die Pläne, eine dem Nationalsozialismus ergebene und leicht zu steuernde Reichskirche zu errichten, an deren Spitze ein schwacher, dem Nationalsozialismus höriger Reichsbischof stand, waren hinfällig. Die Gleichschaltung der evangelischen Kirche war nicht gelungen. Der Widerstand der Landesbischöfe, die durch ihre Pfarrer und Gemeinden massiv unterstützt wurden, sowie die Sammlung von Gemeindegliedern, Pfarrern und Gemeinden in Kirchen, die im Gefolge der Wahlen vom Juli 1933 eine deutschchristliche Leitung erhalten hatten, zu Bekenntnisgemeinden und -synoden hatten die Selbstbehauptung ermöglicht.