Karl-Heinz Becker


Karl-Heinz Becker entstammte einer Juristenfamilie. Sein Vater war Staatsanwalt, sein Großvater mütterlicherseits der Juraprofessor Karl von Gareis (1844–1923). Nach dem frühen Tod des Vaters 1910 zog die Familie zum katholischen Großvater nach München, wo Becker und seine beiden Brüder das Gymnasium besuchten. In dieser Zeit wurde er im Wehrkraftverein gemeinsam mit dem späteren Generalgouverneur in Polen, Hans Frank (1900–1946), militärisch ausgebildet. 1917 leistete er landwirtschaftlichen Hilfsdienst, im Juni 1918 wurde er zum Militär eingezogen, ohne aber noch an Kämpfen teilzunehmen. Nach dem Notabitur im Jahr 1919 war Becker in Ostpreußen bei der Grenzschutztruppe und 1920 an der Ruhr gegen die Spartakisten im Einsatz.


Becker studierte zunächst Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in München – hier begegnete er dem wenig geschätzten Frank wieder – und Kiel, seit 1922 dann Theologie in Erlangen, Berlin und Marburg. Berlin und Marburg waren für bayerische Theologiestudenten eher ungewöhnlich, da sie nicht der konfessionell-lutherischen Theologie verbunden waren.


1921 gehörte Becker zu den Mitbegründern des Bundes Deutscher Neupfadfinder, einer kurzfristig bestehenden Reformbewegung innerhalb der deutschen Pfadfinder. Man lehnte überkommenen Nationalismus und paramilitärische Formen ab und suchte Anschluss an die Jugendbewegung. In den Sommerferien 1923 und 1924 besuchte Becker zu Erholungs- und Bildungszwecken Schweden.


Nach der Theologischen Aufnahmeprüfung 1925 wurde Becker Hilfsgeistlicher in Traunstein bzw. in Mittelfranken, Mitte 1930 trat er in Ezelheim bei Neustadt an der Aisch seine erste selbstständige Pfarrei an. 1935 heiratete er Ruth Springborn, die Tochter eines westpreußischen Rittergutsbesitzers.


Als Pfarrer hatte sich Becker mit dem gerade in Franken enorm erfolgreichen Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Obwohl er, wie viele Angehörige seiner Generation, der Republik ablehnend gegenüberstand, hatte Becker für Hitler, den er erstmals 1920 im Münchner Hofbräuhaus gehört hatte, für dessen Persönlichkeit, Redestil und den rassistischen Inhalt der Agitation nur Verachtung übrig.


Seit 1931 warnte Becker seine kirchlichen Vorgesetzten unermüdlich in Briefen vor der z. T. christlich verbrämten NS-Ideologie, der immer mehr Pfarrer zuneigten. Er forderte energische Schritte gegen nationalsozialistische Pfarrer, da die Partei inhaltlich und in ihrem Verhalten gegen alle sittlichen Grundsätze verstoße. Vergeblich war auch Beckers Appell an den bayerischen Pfarrerverein, sich vom Nationalsozialistischen Evangelischen Pfarrerbund zu distanzieren.


In Zeitungsartikeln und Leserbriefen machte Becker seine Warnungen bayernweit publik. Dabei konnte er sich auf eine intensive Lektüre von Hitlers Buch „Mein Kampf“, seine juristischen Kenntnisse, seine Kenntnis der schwedischen lutherischen Staatsethik und auch auf seine theologische Prägung durch Karl Barth (1886–1968) stützen.


Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten publizierte Becker zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zur Beziehung von Theologie und Recht, zur Staatsethik – v. a. zur Obrigkeitsfrage – und zur Kritik der lutherischen Ordnungstheologie. Durchgehendes Argumentationsfundament war Martin Luthers alle Ideologien übersteigende Aussage von der Freiheit eines Christenmenschen. Beckers Texte fanden ihren Niederschlag zunächst im Raum der Dialektischen Theologie, im Christian Kaiser Verlag in München und in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“. In der Schriftenreihe „Bekennende Kirche“ veröffentlichte er 1939 trotz eines ablehnenden Urteils der Schrifttumsstelle im Reichspropagandaministerium vom 24. August 1938 eine Arbeit über „Die Reformatoren und das Reich Christi zu Münster 1535“. Im Gewand einer historischen Darstellung beschrieb Becker darin eine brutale Diktatur, in der das Recht vom Helfer des Staates gegen die menschliche Sünde zu einem bloßen Mittel im Dienst der Wunschträume sündhafter Menschen erniedrigt worden war (37).


Während des Zweiten Weltkriegs ließ Becker auf eigene Kosten mehrere Schriften zum Recht und zur Staatsethik in kleinen Druckereien in Ungarn und Rumänien herstellen, deren Inhaber kaum eine Ahnung davon hatten, was sie druckten. Die Kritik Beckers an der nationalsozialistischen Rechtsphilosophie und -praxis trug zur Überwindung der illusionären Geistesverfassung und zur Ernüchterung der „religiösen“ Staatsschwärmerei im Nationalsozialismus bei (F. W. Kantzenbach, Einzelne, 138).


Im bayerischen Kirchenkampf tat sich Becker – Obmann der Pfarrerbruderschaft im Kapitel Markt Einersheim und mit BK-Theologen gut vernetzt – v. a. mit ablehnenden Voten zum sog. Arierparagrafen hervor. Intern kritisierte er die zu nachgiebige Haltung der Landeskirche gegenüber der staatlichen – von ihm regelmäßig als „Zoologie“ bezeichneten – Rassenpolitik. Unterstützt von seinem Bruder Fritz (1904–1944) versuchte er im August/September 1936, seine Kirchenleitung dazu zu bewegen, sich hinter die regimekritische Denkschrift der Vorläufigen Kirchenleitung an Hitler zu stellen. Er selbst kommunizierte den Text in seiner Gemeinde. Nach Gründung des Lutherrats im Jahr 1936 gehörte er zu den bayerischen Theologen, die forderten, dass dieser Bund innerhalb der BK aus konfessionalistischen Gründen keine Abkehr von der Barmer Theologischen Erklärung vornehmen dürfe.


Seinen Eid auf Hitler legte Becker im Sommer 1938 nur mit einem Zusatz ab. Darin forderte er die Solidarität der Landeskirche mit den Pfarrern in den sog. zerstörten Landeskirchen.


In Ezelheim hielt Becker Kirchenvorstand und -gemeinde über die kirchenpolitischen Ereignisse auf dem Laufenden. Gegen die versuchte Zwangseingliederung der Landeskirche in die Reichskirche im Herbst 1934 organisierte er in seiner bekenntniskirchlich ausgerichteten Gemeinde Protestversammlungen und -erklärungen. Den Jahrestag der „Machtergreifung“ beging er hingegen nur 1933 und 1934 kirchlich.


Wohl wegen seiner Fremdsprachenkenntnis und seiner Vertrautheit mit der modernen schwedischen Theologie sollte Becker der Delegation der Bekennenden Kirche für die Ökumenischen Konferenzen 1937 in Oxford und Edinburgh angehören. Er publizierte im Vorfeld mehrere Aufsätze, die auf den dann ohne Beteiligung der Bekennenden Kirche stattfindenden Konferenzen besprochen wurden.


Im Juli 1938 konnte Becker illegal zum Ökumenischen Seminar in Genf reisen. Dorthin schmuggelte er einen Brief der Reichsschrifttumskammer an den Herausgeber der „Evangelischen Theologie“ Ernst Wolf (1902–1971), in dem der Zeitschrift genaue inhaltliche Vorgaben gemacht und ihr das Verbot angedroht wurde. Während seines Aufenthalts verhandelte Becker im Auftrag der Bekennenden Kirche mit führenden Ökumenikern über die zu dieser Zeit intensiv diskutierte Aufnahme von ca. 40 deutschen „nichtarischen“ Pfarrern durch andere Kirchen.


Trotz seiner eindeutigen Stellungnahmen gegen Staat und Partei seit 1931 überstand Becker 1937 eine Anzeige wegen Kanzelmissbrauchs, im Januar 1938 wurde ihm jedoch die Genehmigung zur Erteilung von Religionsunterricht entzogen. Nach zwei weiteren Anzeigen wegen Kanzelmissbrauchs wurde Becker im August 1939 zu einer Wehrmachtsübung eingezogen, im direkten Anschluss daran nahm er am Polen- und am Frankreichfeldzug teil.


Seit 1940 war Becker Wehrmachtspfarrer im Rang eines Majors. Sein Amt führte ihn nach Belgien, Rumänien, Ungarn, in die Ukraine, nach Südrussland und zuletzt nach Wien. In Südosteuropa wurde Becker Zeuge der Verbrechen an der Zivilbevölkerung. Dieses Wissen und weitere Studien zur christlich-sittlichen Grundlage des Rechts flossen in z. T. abenteuerlich entstandene Publikationen ein. Diese führten 1944 nach einer Denunziation zu einem Hochverratsprozess gegen Becker, der aber bis Kriegsende nicht entschieden war.


Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Becker nach Ezelheim zurück, wo er noch bis 1949 amtierte. Dann übernahm er die Pfarrstelle Solnhofen in Mittelfranken, 1956 die Pfarrei Oberammergau und wechselte 1959 nach Stübach. Im November 1965 trat er, dessen politische und theologische Urteile in ihrer Hellsichtigkeit für sich selbst sprechen (F. W. Kantzenbach, Einzelne, 107), in den Ruhestand. Auf dem Alten Friedhof in Neustadt an der Aisch erinnert eine Gedenktafel an den entschiedene(n) Gegner der Nationalsozialisten, der hier seine letzte Ruhe fand.


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