Die Rezeption des christlichen Widerstands


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Wie dachte und sprach man in den Kirchen nach 1945 über den christlichen Widerstand? Die Erinnerung an Vergangenes wirft immer auch ein Licht auf die sich Erinnernden: Denn sie ist abhängig von deren politischen, religiösen und kulturellen Standort, von generationellen Prägungen im Laufe der Jahrzehnte und von Deutungsvorgaben der maßgeblichen Autoritäten.


In der Geschichte der kirchlichen Widerstandserinnerung lassen sich drei Phasen unterscheiden:


In einem ersten Zeitabschnitt, der vom Kriegsende bis etwa zum Mauerbau 1961/62 einzugrenzen ist, kann von einer „Martyrisierung“ des Widerstands gesprochen werden. Die Erinnerung an den christlichen Widerstand geschah zunächst als Totenklage um kircheneigenes Personal. Man interpretierte den gewaltsamen Tod solcher Amtsbrüder und Mitarbeiter als christliches Martyrium und verwendete bevorzugt gottesdienstliche Formen und liturgisch vorgeprägte Rituale, um die Todesopfer aus den eigenen Reihen zu würdigen.


In den 1950er-Jahren entstanden in diesem Sinne auch erste Gedenkstätten im kirchlichen Raum, die den Märtyrerbegriff aufnahmen. Diese alte christliche Deutungskategorie bot auch gesamtgesellschaftlich eine akzeptable Möglichkeit, der im Widerstand Gestorbenen zu gedenken. Denn eine Würdigung des deutschen Widerstandes war in der Bundesrepublik nicht von Anbeginn selbstverständlich; sie musste sich erst gegen Abwehr- und Verdrängungsreaktionen der Bevölkerungsmehrheit durchsetzen.


Die DDR hatte sich hingegen per se als antifaschistischen Staat definiert; eine entschieden christliche Widerstandsinterpretation hätte dort das Deutungsmonopol der kommunistischen Staatsführung beschädigt und wurde daher vermieden. Daher bewegten sich die Kirchen in der DDR ebenfalls im Rahmen des traditionellen Märtyrerbegriffs (so in Brandenburg/Havel). Dieser hat sich in Ost und West zunächst als äußerst praktikabel erwiesen.


Eine zweite Phase kirchlicher Widerstandserinnerung lässt sich unter dem Schlagwort „Politisierung“ zusammenfassen. Sie reichte bis zum Ende der 1980er-Jahre, also etwa eingegrenzt durch Bau und Fall der Mauer, und war bestimmt durch das wachsende Interesse der Kirchen an politischer, gesellschaftlicher und kultureller Partizipation. Damit ging eine Hinwendung zu ethischen Fragen einher, die besonders im westdeutschen Protestantismus im Sog der sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre in eine vitale Diskussions- und Aktionskultur einmündete.


In der DDR wurde es im Verlauf der 1970er-Jahre zunehmend möglich, auch entschieden christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus unter die Leitkategorie des Antifaschismus zu integrieren, auch wenn die betreffenden Personen aus bürgerlichen oder militärischen Milieus stammten. Insgesamt zeigt sich in der kirchlichen Erinnerungskultur dieser Phase ein verstärktes Interesse am „politischen“ Widerstand und an einer stark „politisch“ aktualisierenden Widerstandsdeutung.


In den 1980er-Jahren verlagerte sich die Debattenfreudigkeit des westdeutschen Protestantismus noch einmal signifikant auf die Friedens- und Umweltbewegungen, eine Entwicklung, die nun wieder lebhafte Entsprechungen auch in Ostdeutschland hatte und dort in kirchliche Protestbewegungen mündete: Eine neue Widerstandsdeutung, auch im kirchlichen Bereich, trug zum Erfolg der „friedlichen Revolution“ von 1989 bei.


Im Westen ging die Erinnerungskultur der „Ära Kohl“ mit deutlicher Ernüchterung und neuen Deutungskontroversen einher. Dies zeigt etwa die Auseinandersetzung um die „Gedenkstätte Deutscher Widerstand“, deren integrale Konzeption in der konservativ dominierten Republik geschichtspolitisch umstritten war.


Etwa seit dem Epochenjahr 1989/90 ist ein weiterer Wandel in der kirchlichen Widerstandserinnerung zu verzeichnen. In dieser jüngsten Phase kann von einer „Kanonisierung“ des Widerstands gesprochen werden. Einzelpersönlichkeiten des christlichen Widerstands werden als markante Autoritäten kirchlichen Selbstverständnisses herausgehoben, andere jedoch aus ethischen Gründen aus dem scheinbar feststehenden Kanon akzeptierter Widerstandsgrößen ausgeschieden.


Auch ist eine ökumenische Ausweitung des neu belebten Märtyrergedenkens zu verzeichnen. Alle großen christlichen Kirchen kennen mittlerweile eine konfessionsübergreifende Verehrung für die Märtyrer des 20. Jahrhunderts. Das bringt als Kehrseite mit sich, dass die Thematisierung von Widerstand als Handlungsmodell wieder hinter die fromme Märtyrerverehrung zurücktreten kann.


In den letzten Jahren lässt sich aber auch eine Interessenverlagerung von den kirchlichen Funktionsträgern zu den „stillen Helden“ erkennen. Damit tritt die ganze Vielfalt des christlichen Widerstands in den Blick.